Craftbier 2.0(?) – Carnivale Brettanomyces 2017 in Amsterdam

Vom 22. bis zum 25. Juni ging in Amsterdam der Carnivale Brettanomyces über die Bühne. Ein (Festival-)Kongress, der sich ganz dem liebsten Feind so mancher Brauerei widmet. Und freilich auch den Bieren, die damit gebraut werden. Als Orval-Liebhaber war für mich klar: ein Pflichttermin. Also schnell mal das gesamte Urlaubsgeld für Tagung, Flug und Hausboot verbraten und für drei Tage ab nach Amsterdam – gemeinsam mit unseren beiden Lieblings-Bierbotschaftern Georg Moser (Sudkraft GmbH) und Gerhard Batschak. Schlussendlich erleichtert diplomatische Immunität auch das olfaktorische Verbrechen. Bevor’s nun aber direkt zu den spontanvergorenen Vergehen und hedonistischen Exzessen des diplomatischen Korps geht, muss ich ein wenig ausholen….

Gunter Almer hat in „Craftbier – bleibts ein Hype oder wird’s Kult(ur)?“ bereits eine sehr pointierte Reportage über Kultur und Un-Kultur rund ums Thema Craftbier abgeliefert. Mein Zugang hier ist ein etwas anderer, als der Titel in digital-neudeutschem Kauderwelsch vermuten lässt: Die Craftbier-Revolution als Re-Evolution, als Neuentwicklung und Diversifizierung alter Bierstile nach deren industrialisierungsbedingtem Massensterben im 20. Jahrhundert. Bierstile, die Kultur waren, lange bevor es den Begriff Craftbier gab.
Im Detail: Vor der Industrie war „Craft“. Und vor den Saccharomyces-Reinzuchtkulturen war Brettanomyces. Brettanomyces ist wie Saccharomyces eine Hefe, gehört wie diese zur Abteilung der Schlauchpilze (Ascomycota), ist stammesgeschichtlich aber älter.[1]

In einer Zeit vor moderner Mikrobiologie, Kellerhygiene und CIP-Reinigung lebte Brettanomyces wohl in friedlicher Eintracht gemeinsam mit Saccharomyces in so manchem Gärkeller, so manchem Bier. Nach Pasteur, Koch und Hansen war die Welt für die eigentlichen Bierproduzenten und insbesondere für „Oma Brett“ aber eine andere geworden… 

1904 meldete Hjelte Clausen, damaliger technischer Direktor der Carlsberger Brauerei, ein Patent zur Herstellung Englischer Biere an. Beschrieben wird darin auch die Isolierung einer Hefe, für die der Name Brettanomyces vorgeschlagen wird, der auf ihre britische Herkunft verweisen soll. Der Hintergrund: Hjelte hatte entdeckt, dass starke britische Ales eine langsame Nachgärung durchliefen, die ein charakteristisches Geschmacksprofil erzeugte. Er war in der Lage, dieses Profil zu reproduzieren, indem er Biere mit einer Reinkultur isolierter Brettanomyces-Hefe beimpfte.[2]  

Gleichzeitig mit der Etablierung der Reinkulturen begann nun aber nicht etwa der coexistenzielle Siegeszug von Saccharomyces und Brettanomyces, sondern das systematische Beseitigen letzterer aus den Lagerkellern und Gärbottichen der europäischen Brauereien. 
Die letzten Bastionen von Brettanomyces blieben Lambics, alte belgische Stile (Oud Bruin, Flanders Red Ale) und Berliner Weiße.[2]; [3] 

Wirft man einen Blick auf das übliche Vokabular rund um Brett, so mag das vorerst auch nicht weiter verwundern: „Pferdedecke“, „Pferdeschweiß“, „Leder“, „Medizinal“ bis hin zum urinalartigen „Mäuseln“ bei Weinen.[4]; [5]; [6]

Gehört Ihr auch zu den genetischen Privilegierten, die „Mäuseln“ schmecken können, so versucht euch ruhig ein Mal an einer Flache verseuchten Weins. Es wird bei diesem einen Mal bleiben…. Andererseits eröffnet Brettanomyces trotzdem – oder gerade deshalb – die Möglichkeit, Biere zu brauen, die in ihrer Komplexität selbst die Gaumen der abgebrühtesten Verkostungs-Veteranen mühelos durchs Stammhirn sprengen. Suizidaler Geschmacks-Kopfschuss durch den Mund- und Rachenraum, sozusagen.

Der Grat zwischen muffigem Mäuseurin und aromatischem Elysium, zwischen Black Beauty’s durchgeschwitzer Reizwäsche und einem Korb belgischer, kandierter Dörrfrüchte ist freilich ein recht schmaler….

Und diesen schmalen Grat beschreitet der alljährliche Carnivale Brettanomyces. Mit dabei: die „Partners in Crime“ der Brachialhefe, die sich lesen wie das Pater Noster aller Bieraposteln: Acetobacter, Pediococcus und Lactobacillus.

Kaum aus dem Airbus gekrochen und in Amsterdam angespült, ging’s zunächst ans vorsichtige „Akklimatisieren“ mit dem auf Ratebeer als herausragend bewerteten Amstel Lager. Weiter ging’s mit  einem Saison und IPA einer niederländischen Brauerei, über die ich hier besser kein Wort verlieren möchte. Sadomasochistische Null-Eichung für das Kommende, sozusagen.
Da Georg und Gerhard hier bereits einen Tag Vorsprung hatten, musste ich mich letztlich doch recht ins Zeug legen. Und das war auch gut so. Spätestens im Arendsnest war die mühsam antrainierte Kondition der letzten Jahre dann in vollem Ausmaß gefordert.
Das sollte allerdings erst der Beginn eines Wildschweinlaufs quer durch eine bunte Sumpf- und Sauerlandschaft aller möglichen Wild Ales werden.

Bei Brauereien mit klingenden Namen wie Antidoot Wilde Fermenten, Oedipus, Oersoep, oder De Kromme Haring, deren ehrenhaftes Kredo „The only thing we fear is shitty beer“ lautet, lässt sich wohl bereits erahnen, dass hier selbst die gestandene Lambic-Fraktion ein leichtes Frösteln überkommen kann. Ähnlich tiefgründig die Namen der Gebräue: Spotsylvania Frankenfish (ein Kollaborations-Brett-IPA von Oedipus und Bright Yeast Lab), Jolly Roger (Brett-Black Ale von Ramses) und Fik in de Foeder (Kollaboration von Gulpener und B.O.M, etwas wie ein Roasted-Belgian-Strong Ale – wollte ich hier eigentlich allein des Namens wegen erwähnen) oder schlicht und ergreifend das Brett Tripel (nomen est omen) von Prael.  
Solltet ihr mehr wissen wollen, könnt ihr euch die On-Tap Liste des Arendsnest hier zu Gemüte führen. Müsste ich bezüglich der Geschmackseindrücke dieses Abends frei assoziieren, es würde sich wohl so anhören: „Balsamico Eierlikör“, „Buttermilch-Kirschmarzipanlack“, „Ananasrohfrucht-Tropicaljoghurt“.

Mein Hauptaugenmerk galt, neben diesen eher lukullisch orientierten Veranstaltungen, freilich dem wissenschaftlichen Part des Carnivale Brettanomyces. Die Liste der Speaker war beeindruckend lang, die Themenwahl eine breitgefächerte und auf ein vielseitig interessiertes Publikum zugeschnitten, was sehr löblich ist.  Vertreten waren nicht nur Autoren einschlägiger Literatur wie Jeff Sparrow („Wild Brews: Beer Beyond the Influence of Brewer’s Yeast“) und Phil Markowski („Farmhouse Ales: Culture and Craftmanship in the European Tradition“), sondern auch die Wissenschaftsfraktion war mit Themen wie Rediscover the wild side of cultivated yeast (Steven van den Berg), Isolating wild Saccharomyces for brewing Applications (Jasper Akerboom) und Brettanomyces fermentation behavaiour (Richard Preiss) deutlich präsent. Insbesondere das Gärverhalten von Brettanomyces in der Nach-, vor allem aber in der Hauptgärung hat es mir diesbezüglich angetan, denn hier gibt’s noch einiges an Forschungsbedarf, wohingegen das Isolieren wilder Hefen ein Thema ist, an dem wir auch selbst gerade dran sind. Zu beiden Bereichen gibt’s in Kürze dann auch mehr Details in der Kategorie Aus dem Labor….

Der Schwenk ins Hier und Jetzt wird also wieder nötig. An einem regnerischen Samstag Morgen schließlich verlasse ich Georg, Gerhard und das Hausboot. Während es die beiden Größenwahnsinnigen nach Belgien, zum SWAFF! weiterzieht, mache ich mich auf den Heimweg. Beim eher turbulenten Landeanflug auf Graz dann noch kurz nachgedacht, Resümee gezogen:

Hefe-Isolieren im eigenen Garten, mit Löffel, Drigalskispatel, YM-Agar und aus Fallobst? Hat Potenzial zum trendigen Kult-Hobby. Und bei all dem mycotoxischen und humanpathogenen Mist, den man dabei vielleicht gleich mitisoliert und vermehrt: auch zum 10er Block Krankenstand.

Kommt Brett nun als Craftbier 2.0 (wieder)? Geschmacklich: kann eine Offenbarung sein, ganz sicher. Komplexer freilich als so manches, was man von Saccharomyces gewohnt sein mag. Und Neuland für jene, denen die ewig gleichen PAs, IPAs und Stout-Variationen bereits zum Hals heraushängen. Eine Offenbarung sozusagen, für die dekadent Gelangweilten – oder das genaue Gegenteil. Ein Verkaufsargument etwa, für Brauereien mit versauter Betriebshygiene, die mal schnell die 10 HL verseuchte Sauer-Plörre vom letzten infizierten Sud als Vintage Sour Ale loswerden wollen. Ich warte auf das erste Vinegale… Für die Brauenden unter uns mit Sicherheit eine lohnende Herausforderung, und mit Sicherheit wird Brettanomyces die Hauptrolle in einem unserer nächsten Experimentalsude spielen.      

Wir halten Euch auf dem Laufenden….

p.s.: Wer aber mal in der Nähe von Graz dezent in die Alte Welt der Biere mit Brettanomyces-Beteiligung schnuppern möchte, sollte ins Flann O’Brien schauen und ein Rodenbach Grand Cru bestellen. 
Quellen:
[1] Barnett, J. A., Payne, R. W., & Yarrow, D. (1983). Yeasts: Characteristics and identification. Cambridge University Press.
[2] White, C., & Zainasheff, J. (2010). Yeast: the practical guide to beer fermentation. Brewers Publications.
[3] Sparrow, J. (2005). Wild Brews: Beer beyond the influence of brewer’s yeast. Brewers Publications.
[4] Chatonnet, P., Dubourdieu, D., & Boidron, J. N. (1995). The influence of Brettanomyces/Dekkera sp. yeasts and lactic acid bacteria on the ethylphenol content of red wines. American Journal of Enology and Viticulture, 46(4), 463-468.
[5] Du Toit, M., & Pretorius, I. S. (2000). Microbial spoilage and preservation of wine: using weapons from nature’s own arsenal–a review. S Afr J Enol Vitic, 21(Special Issue), 74-96.
[6] Licker, J. L., Acree, T. E., & Henick-Kling, T. (1998). What is“ Brett“(Brettanomyces) flavor?: A preliminary investigation.
Tags:
Leave a Comment

*

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.